Wolodymyr Selenskyj im Mediazona‑Interview: "Dieses Blutbad kann nicht einfach weggewischt werden"
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21 апреля 2022, 16:12

Wolodymyr Selenskyj im Mediazona‑Interview: "Dieses Blutbad kann nicht einfach weggewischt werden"

Mediazona-Verleger Pjotr Wersilow, Präsident Wolodymyr Selenskyj und Filmproduzent Beau Willimon, mit dem Wersilow an der Produktion einer Dokumentation über den Krieg in der Ukraine arbeitet. Foto: Mediazona

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich zum ersten Mal seit dem 24. Februar mit einem russischen Journalisten persönlich getroffen — mit dem Verleger von Mediazona Pjotr Wersilow. Gemeinsam mit dem Filmproduzenten Beau Willimon arbeitet Wersilow momentan an der Produktion einer Dokumentation über den Krieg in der Ukraine. In diesem Interview beantwortet Selenskyj, was es seiner Meinung nach für eine Wiedergutmachung brauchen würde, ob die russischen Stimmen gegen den Angriffskrieg in Kiew Gehör finden und ob noch der ukrainische Präsident jemals bereit wäre, nach Moskau zu kommen.

— In letzter Zeit wurde viel darüber gesprochen, wie sich die Haltung der Ukraine zu den Russen verändert hat. Was würde es Ihrer Meinung nach brauchen, damit sich dieses Verhältnis irgendwann wieder normalisiert? Was müssen Russland und insbesondere das russische Volk machen?

— Das ist eine sehr komplizierte Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie heute überhaupt beantworten kann. Ich schätze, dass keiner jetzt eine Antwort parat hätte. Vielmehr kommt es auf den Weg zur Beantwortung dieser Frage an. Genauer gesagt, auf den Anfang dieses Weges [zum Mei­nungs­um­schwung].

Die Sache ist, dass der Beginn dieses Weges nur von der russischen Bevölkerung abhängt. Die russischen Bürger müssen die eigene Schuld einräumen, dass sie dem ukrainischen Volk nicht zugehört haben. Diese Schuld besteht darin, dass viele [Russen] sich geweigert haben, zuzuhören. Sie müssen eben die Schuld bekennen, dass sie nicht einmal wollten, [uns] zuzuhören. Sie müssen zugeben, dass sie getötet haben. Sie müssen endlich mit diesem Gerede aufhören, “das sind nicht wir gewesen, sondern die anderen”. Russland muss gestehen, dass eine Tragödie geschehen ist.   

Eine Tragödie ist geschehen. Die Ukraine wurde angegriffen, ein Teil des Landes wurde besetzt und ausgeraubt, die Menschen wurden umgebracht, brutal niedergemetzelt. Diese Schuld einzuräumen wäre einer aufrichtigen Beichte in der Kirche ähnlich. Ich glaube, die Frage des Vergebens muss sich wirklich nicht an die Ukraine, sondern an den Herrn Gott richten.

Auf eine Wiedergutmachung könnten sich die zukünftigen Generationen eventuell einigen. Aber zunächst muss [eine Beichte] abgelegt werden. Die Schuld zu gestehen heißt es aber nicht nur all dies auszusprechen, sondern [vor allem mit dem Angriffskrieg] aufzuhören. Danach muss Russland sagen: “Ja, wir haben euch viel genommen. Was muss jetzt für die [mögliche] Wiedergutmachung getan werden?”. Vielleicht wäre das der Anfang dieses Weges. 

— Aber was könnte jetzt unternommen werden? Sieht man in der Ukraine derzeit etwas in Russland, was auf diesen Neuanfang hindeuten würde?

— Nein, derzeit deutet nichts darauf hin, dass etwas [seitens der russischen Bevölkerung] unternommen wird. Es gibt nur wenige russische Staatsbürger, die sich klar gegen den Krieg positionieren. Manche sind aus Russland ausgewandert, manche sind geblieben wie die Schauspielerin Lija Achedschakowa.

Wir haben [Achedschakowas] Ansprache an das ukrainische Volk gesehen. Ein steter Tropfen höhlt den Stein, wenngleich viele Webseiten und Medien in Russland blockiert worden sind. Und ja, wir sehen diese Haltung [der wenigen Russen, die sich gegen den Krieg aussprechen].  

Wie wir am [​​Achedschakowas] Beispiel sehen, es kommt ja gar nicht darauf an, ob man in Russland lebt oder eben nicht. Letzten Endes ist das [angesichts des Krieges] genauso egal, welchen Pass man hat. ​​Achedschakowa spricht sich klar gegen [den Krieg] aus und meint, dass dieser Krieg eine Katastrophe ist. ​​Achedschakowa hat eine klare Haltung gegen Putin und insofern eine klare Haltung gegen den Krieg. 

Sie müssen sich das Erschreckendste vor Augen führen: dass die einfachen Leute in Russland diesen Krieg unterstützen. Und es geht um einen großen Teil der Bevölkerung.  Das ist erschreckend. Deshalb kann man in Russland nicht sagen, dass man unschuldig sei, nur weil man keine Waffe in der Hand gehabt hat. Doch, doch. Selbst wenn man nicht persönlich abdrückt, heißt das noch nichts. Solche Sachen müssen [doch ganz klar] angesprochen werden.

[Die politische Führung Russlands] hat einen katastrophalen Fehler begangen und dank der Propaganda das ganze russische Volk in die Verantwortung mitgezogen. Indem [die politische Führung Russlands] sämtliche momentan in Russland lebenden Generationen der Propaganda dieses Blutbades ausgesetzt haben (weil wir ja nicht mit einem Krieg, sondern mit einem Blutbad zu tun haben), sind jetzt alle historischen bzw. kulturellen Errungenschaften Russlands in Frage zu stellen.

Wolodymyr Selenskyj und Pjotr Wersilow / Mediazona

Von nun an wird man sich in vielen Ländern nicht mehr mit der Frage beschäftigen, ob jemand ein guter oder schlechter Russe bist. Sie werden einfach pauschal alle Russen [schlecht behandeln]. Das hat jetzt Russland erreicht. Mich geht das ja letztendlich nichts an, aber das sollte das russische Volk schon erschrecken. Russland hat viele Errungenschaften, Entdeckungen, Künstler, Intellektuelle, Wissenschaftler [zustande gebracht]. Aber nach diesem Blutbad wird das die Leute nicht mehr interessieren, da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube, das ist wohl die größte Niederlage [Russlands in diesem Krieg].

Die ganze Zeit haben russische Politiker von historischen Schritten, Gerechtigkeit, Kampf gegen Nazismus und was auch immer gesprochen. Aber dieses Blutbad lässt sich nicht einfach wegwischen. Es ist unmöglich, das zu vergeben. Werden jetzt die [ukrainischen] Familien, die jemanden in diesem Blutbad verloren haben, die Russen verzeihen? Nein, werden sie nicht. Und dessen muss man sich bewusst sein.

Wie war es damals mit NS-Deutschland? Wir wissen das ja. Klar, wir verstehen, dass nicht die ganze [russische] Bevölkerung die Täter sind. Aber wer will das schon hören? Wer will da schon differenzieren? Warum hat man weggesehen, als damals die Nazis die Juden mitten in der Stadt  in die Knie gezwungen und erschossen haben? Wie kann es sein? Weil die Menschen Angst um sich hatten. Viele Deutsche haben damals auch Angst vor den Nazis gehabt, aber einige waren doch bereit, einiges zu opfern und sind ein Risiko eingegangen dadurch, dass sie Juden geholfen und sie versteckt haben. Manche haben damals doch einen Zettel gegen die Nazis geschrieben und ihn irgendwo aufgehängt. Es geht ja [beim Widerstand gegen den jetzigen Krieg] auch um diese kleinen Schritte.

In Russland behauptet man, dass ein Einzelner jetzt nichts machen könne.

Selbst wenn man jetzt auf den Roten Platz geht, würde einen niemand hören. Man wird sofort festgenommen. Aber es würde sehr wohl jemand hören: Die Kinder und Enkel dieser Menschen würden es hören und sagen: “Mein Vater hat dagegen protestiert, er ist festgenommen worden”. Man darf nicht sagen, dass man [in Russland gegen den Krieg] jetzt nichts machen kann. Das stimmt einfach nicht! Daher wäre der Weg zur Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine sehr lang.

Wolodymyr Selenskyj / Mediazona

— Wie stellen Sie sich die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland in 20 Jahren vor? Wie müsste die Welt aussehen, damit Sie Moskau irgendwann wieder besuchen können? 

Ich bin davon überzeugt, dass ich in 20 Jahren nicht mehr über die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland als ein Präsident nachdenken muss. Aber als Bürger werde ich mir schon noch Sorgen darum machen müssen. Mir ist es ja nicht egal, was [in Zukunft] mit meinem Land passiert. Sicherlich ist mir nicht egal, welche Beziehungen mein Land zu den Nachbarländern pflegt. Ich meine aber damit verschiedene Nachbarländer. In 20 Jahren wird Russland einen anderen Präsidenten haben. Die Ukraine ebenso. Was die Ukraine anbelangt, bin ich mir wirklich ganz sicher. In Russland? Wer weiß schon, was bei euch in der Politik [in 20 Jahren] so abgeht? (lacht). Aber Gott weiß, es wäre wirklich lustig vorzustellen, dass irgendwelche neuen Technologien Putin es ermöglichen, an der Macht zu bleiben. 

Ich will aber die Russen jetzt nicht beleidigen. Es wird in 20 Jahren in Russland bestimmt andere Politiker geben. Vorausgesetzt, dass ein anderer Präsident diese Blase der Propaganda, nach der die Menschen in Russland süchtig geworden sind, platzen lässt.

Ich glaube, das russische Volk wird schon in drei bis fünf Jahren den Tatsachen ins Auge blicken müssen. Vor allem dank der neuen Informationstechnologien, die sich sehr schnell entwickeln. 

Jedoch wird sich bestimmt ein Teil der Bevölkerung [mit der Wahrheit über diesen Krieg] nicht abfinden wollen. Nicht alle sind imstande, zu eigenen Fehlern, insbesondere zu solchen blutigen Fehlern, zu stehen. Ein anderer Teil wird schon das Augenlicht wiederfinden. Die Intelligenzija wird plötzlich die Realität sehen und sich Asche aufs Haupt streuen (aber nur der Teil der Intelligenzija, der bis dahin noch in Russland bleibt). Viele Russen werden anfangen, [das Ausmaß dieses Krieges] zu begreifen. Und dann liegt es bei den Russen und dem russischen Staatsoberhaupt, eine richtungsweisende Entscheidung zu treffen. Das russische Staatsoberhaupt muss klar kommunizieren: “Wir sind bereit, [zu dem Krieg und zu den Kriegsverbrechen] zu stehen”. Das wäre ein sehr wichtiger Schritt. Die Russen müssen dabei hinter diesem Staatsoberhaupt stehen, weil sie ihn oder sie gewählt haben. Es wäre wirklich der erste Schritt zu sagen, dass der Krieg geschehen ist. Das wäre eine Grundlage dafür, dass die Politiker Russlands und der Ukraine wieder ins Gespräch kommen könnten. Das wird zweifelsohne irgendwann passieren. Je früher, desto mehr würden wir uns freuen.

Wolodymyr Selenskyj und Pjotr Wersilow / Mediazona

— Wäre es in so einer Welt für Sie möglich, nach Moskau zu kommen?

​​Der Zweck heiligt die Mittel. Im Namen meines Landes wäre ich bereit, jeden Ort dieses Planeten aufzusuchen. Aber bestimmt nicht jetzt und sicher nicht nach Moskau. Das ist schlicht und einfach ausgeschlossen. Nichtsdestotrotz wäre unter anderen Umständen und mit anderen Regierenden [in Moskau] alles möglich. Spaß würde mir eine Reise nach Moskau nach all dem Geschehenen aber keinesfalls machen. 

Das Interview wurde am 56. Tag des Krieges, dem 20. April 2022, in Kiew aufgezeichnet. Übersetzung von Vitaly Vasilčenko.

Sie können die gekürzte Version des Interviews auch beim Standard nachlesen.